Die Zunge, das Innerste und zu wenig Blut in den Organen
Bevor ich Ihnen die Logik der Zungendiagnose erkläre, möchte ich mich zum sogenannten „Placebo-Effekt“ äußern. Dieser begegnet mir nämlich immer wieder mal, wenn mir Patienten gestehen, sie würden ganz bestimmt an die TCM glauben, damit diese dann bei ihnen besser oder überhaupt erst wirken könne. Daraufhin gucke ich sehr ernst, nicke verständnisvoll und schmunzle heimlich in mich hinein. Hier im Westen wird die Chinesische Medizin oft als spirituelle Hui-Bu-Medizin gehalten. Dem begegne ich jetzt hier: Sie brauchen überhaupt nicht daran glauben, sie funktioniert nämlich auch so.
Dem Placebo-Effekt, den möglicherweise manch andere hochgeistig schwingende und klingende Therapierichtung nötig hat, möchte ich an dieser Stelle keineswegs seine Wirkung absprechen. Er ist nicht zu verachten. Auch Jesus hatte vor 2000 Jahren etwas von ihm gehalten, denn unter Matt 9:22 ist zu lesen: „Sei getrost, meine Tochter, Dein Glaube hat dir geholfen. Und das Weib war gerettet von jener Stunde an…“ Also hat Jesus mit dem Glauben, sprich, Placebo-Effekt gewirkt und gearbeitet. Er brachte die Lahmen, Blinden und (Halb-)Toten dazu, dass sie glaubten. Und so klappte es dann tatsächlich, dass diese wieder gehen, sehen und leben konnten. – So, das hätten wir geklärt.
Und nun komme ich zur Zunge und dem Innersten und damit zur berühmten chinesischen Zungendiagnose. Während der Medizinerausbildung verbringen die TCM-Studenten viel Zeit mit Zungen, die sie betrachten, katalogisieren, analysieren und diagnostizieren. Da gibt es einiges zu sehen, zum Beispiel junge, alte, gesunde, große, kleine, blasse, rote, blaue, gelbe, orange, fleckige, getupfte, trockene, rissige, nasse, schleimige, tropfende, schiefe, geschrumpfte, geschwollene, belaglose, belagreiche, gestaute und noch ein paar mehr. Die Zunge wird auch als „Spross des Herzens“ bezeichnet, und wer seine Zunge nicht benützt, um sich auszureden, läuft Gefahr, dass er aus „seinem Herzen eine Mördergrube macht“. Deshalb ist es besser, wenn sich jemand alles „von seiner Seele redet“. Irgendwas muss die Zunge mit dem Herzen und der Seele zu tun haben. Ich behaupte nun, dass die Zunge nicht nur das Herz, sondern das ganze Körperinnere darstellt, die Organe, das Blut, die Säfte und den Energiezustand.
Was so alles auf der Zunge zu sehen ist, bzw. darunter liegt, erfahren die Patienten, wenn sie vor mir sitzen. Zungendiagnose ist eine logische und nachvollziehbare Körperschau und keine Zauberei oder so was wie Sternendeutung oder Hellseherei. Die Zunge ist ein Muskel. Und so, wie dieser ausschaut, dürfte der unsichtbare Rest, der unter der Haut liegt, auch ausschauen. Wenn die Zunge blass ist, dann sehe ich, dass in dem Zungenmuskel zu wenig Blut ist, und damit wird auch zu wenig Blut im Körpergewebe sein. Schaut die Zunge zudem etwas bläulich aus, weiß ich, dass zum Blutmangel auch noch Kälte kommt. Wenn der Zungenmuskel gedunsen und geschwollen ist, weiß ich, dass der Körper mit zu viel Feuchtigkeit und Wasser belastet ist. Ist die Zunge knall- bis scharlachrot, schauts im Körper eben auch so aus. Für TCMediziner bedeutet eine solche Zunge Fülle, was nicht unbedingt positiv gemeint ist, es gibt nämlich auch Fülle durch Stagnation, wenn es also nicht weitergeht und der Betrieb quasi stillsteht. Auf Stagnation folgt meist Hitze, was als Übersäuerung und Entzündungsbereitschaft übersetzt werden.
Der Zungenmuskel wird von der Spitze bis zur Wurzel in Körperbereiche und Organe eingeteilt. Herz ist die Zungenspitze, seitlich davon die Lungen. Zungenmitte ist Magenbereich und die anderen Verdauungsorgane, wie Milz, Bauchspeicheldrüse, Dünndarm. Zungenseiten sind, links, die Leber, rechts, die Gallenblase. Zweite Zungenhälfte ist der Unterleib bzw. der Darm, und ganz hinten zur Zungenwurzel hin, die Nieren. Ich scanne auf diese Weise die jeweiligen Körperbereiche und Organe ab. Ich habe einen persönlichen Hang zu den Zungenvenen, die an der Unterseite liegen, und achte genau darauf, ob und wie sie gestaut sind. Nach meiner persönlichen Erfahrung zeigen sie mir ziemlich deutlich Stauungen an, die unter anderem mit Bluthochdruck und Herzinsuffizienzen zu tun haben.
Die Farbgebung der Zunge zeigt unter anderem, wie es um die Blutversorgung im Körper steht. Wenn man das verstanden hat, ist es faszinierend, mitzuerleben, wie sich verschiedene Arten von Blutarmut – damit meine ich auch Blutarmut in den Organen – behandeln lassen – im chinesisch-medizinischen Sinn, möchte ich anmerken.
Wussten Sie, dass die Blutmenge von Mensch zu Mensch stark schwankt? Wenn Sie Pech haben, gehören Sie zu denen, die nur vier Liter in sich haben, und wenn Sie Glück haben, sind es sieben Liter. Ein Körper mit wenig Blut wird nicht nur äußerlich blass sein, sondern auch die Organe und das Gewebe müssen mit weniger auskommen. Das bedeutet, der Organismus arbeitet insgesamt eher auf Sparflamme. Es wird einem eher kalt, man fühlt sich schneller müde und erschöpft, man hat weniger Energie und Kraft usw. Paradoxerweise lässt sich so ein gesamtkörperlicher Blutmangel anhand einer Blutabnahme mit Check der Blutwerte nicht nachweisen. Die Laborergebnisse liegen im Normalbereich, der Arzt sagt: Alles in Ordnung. Woran liegt das? – Die logische Erklärung dafür ist ganz einfach: Das entnommene Blut aus der Vene in der Ellenbeuge ist lediglich eine Art Momentaufnahme. Das Blut kommt aus den Organen und bewegt sich Richtung Herz, so, wie Arbeiter, die nach getaner Arbeit aus der Fabrik strömen. Das Labor stellt nur die nach Hause (Straße) eilende Arbeiterschar fest, weiß jedoch nicht, wie viele in der Fabrik (Organe) selbst arbeiten. Ein Blick auf die Zunge zeigt dagegen an, wie es dort aussieht, ob also genügend Arbeiter da sind oder nicht. Entscheidend und aussagekräftig ist also nicht, wieviel Blut zur Abnahme gerade in der Ellenbeuge durch die Vene strömt, sondern, wieviel Blut den Organen zur Verfügung steht, um sich, erstens, selbst zu versorgen und zudem auch noch ihre systemische Arbeit zu verrichten, damit Organismus und damit der Körper seine optimale physiologische Leistung erbringen kann. Deshalb unterscheiden wir in der Chinesischen Medizin Funktionsorgane und Sammelorgane. Herz, Lunge, Nieren, Leber und Milz müssen funktionieren, sprich, produzieren, Dünndarm, Dickdarm, Blase, Gallenblase und Magen dagegen müssen nur sammeln. Wenn dem Gewebe und damit auch den Organen zu wenig Blut zur Verfügung steht, wird die Organproduktion und damit die Gesamtversorgung nicht unbedingt üppig ausfallen. Weiter oben habe ich erwähnt, dass sich dies mit Müdigkeit und Erschöpfung bemerkbar machen kann, jedoch werden sich dazu meist noch ganz andere Beschwerden oder Symptome gesellen. Ich nehme als Beispiel Blutmangel der Leber. Im Westen kennt man diesen Begriff noch gar nicht, doch für die Chinesische Medizin ist er eine Selbstverständlichkeit. So wissen wir, dass sich die Leber in die Augen öffnet und dass die Sehnen und Bänder eben von diesem Leberblut versorgt werden. Kommt nun ein Patient zu mir in die Praxis, der über verschwommenes Sehen und Flusen im Blickfeld sowie ziehende Schmerzen in den Gelenken klagt, dann schaue ich mir seine Zungenränder etwas genauer an. Die werden höchstwahrscheinlich blass sein, was wiederum ein Zeichen von Leberblut-Mangel ist. Tja, und dann wird der Patient mit Kräutermedizin und auch Akupunktur entsprechend stärkend auf das Leberblut behandelt.
Noch ein Beispiel, was die Zunge so zu erzählen hat, sind schmerzhafte Aphten und Geschwüre auf der Zunge oder an den Rändern. Diese sind eigentlich nichts anderes als Ausdruck von Hitze im Körper. Die Gründe, warum es dazu kommt, können psychischer Natur (Leber, Herz, Dünndarm) sein oder von einer zu hitzigen Ernährung (Magen, Dünndarm, Milz-Yang) kommen. Die Entstehungsgeschichten beschreibe ich in einem nächsten Artikel…